Urs Faes:
Sommer in Brandenburg
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014

«Ich habe mich mit Dir angesteckt»

In Sommer in Brandenburg stellt Urs Faes dem Schrecken des Holocaust eine zärtliche Liebesgeschichte gegenüber:

Charles Linsmayer im NZZ Bücherjournal

Liebe in verstörenden Zeiten

Von Theodora Peter

1938 begegnen sich Ron und Lissy im jüdischen Landwerk, wo sich junge Juden in Deutschland auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiten. Mit „Sommer in Brandenburg“ legt der Schweizer Autor Urs Faes eine grossartige Erzählung über die Liebe in verstörenden Zeiten vor.

Sie stammen aus gutbürgerlichen Familien aus Hamburg, Berlin oder Wien, kennen weder die Heiligen Schriften noch das Land, in das sie reisen sollen. Die fortschreitende „Arisierung“ des Dritten Reichs lässt ihnen aber keine Wahl: Zahlreiche Jugendliche rüsten sich in den jüdischen Landwerken für die Ausreise und die harte Arbeit als Pioniere in den Kibbuzim.

Ron, der 20-jährige Schlaks aus Hamburg, lebt und arbeitet schon seit mehreren Monaten auf dem Landgut in Brandenburg, als Lissy im Sommer 1938 mit einer Gruppe aus Wien eintrifft. Sie fällt ihm sofort auf: ihr übermütiges Lachen und die Seidenstrümpfe, die so ganz und gar nicht geeignet sind für die Feldarbeit. Bald keimt eine grosse Liebe, wie geschaffen für einen gemeinsamen Aufbruch in ein neues Leben.

Meisterhafte Schlichtheit

Fortan bangen beide darum, nicht ohne den anderen auf die Liste für die Alija, die Besiedlung Palästinas, gesetzt zu werden. Angesichts einer drohenden Trennung bleibt dem jungen Paar nichts anderes übrig, als die gemeinsamen Tage und Wochen so zu leben, als wären sie von ewiger Dauer.

Urs Faes erzählt die aufwühlende Liebesgeschichte mit einer meisterhaften Schlichtheit, die eine grosse emotionale Sogkraft entwickelt. Das Landgut in Brandenburg wird dabei zu einer kleinen Insel inmitten eines zunehmend braunen Ozeans.

Die äussere Bedrohung manifestiert sich in den Briefen von Eltern und Geschwistern, die von Deportationen und Enteignungen in den Städten berichten. Bald fliegen die Steine auch gegen die Gewächshäuser des Landwerks, das von den Nazis nicht mehr lange geduldet sein wird.

Dokumentarisches Nacherzählen

Auf die Geschichte von Ron und Lissy gestossen ist der Autor durch Fotos im Museum des jüdischen Volkes in Tel Aviv. Die Bilder stammen vom Fotografenpaar Herbert und Leni Sonnenfeld, das in den 1930er-Jahren jüdisches Leben festhielt – „in den schmalen Freiräumen, in denen es noch gelebt werden konnte“.

Faes beschreibt das Making Of seines Romans in Zwischenkapiteln unter dem Titel „Nacherzählen“. Diese dokumentarischen Einschübe, die man eher als Vor- oder Nachwort erwartet hätte, irritieren zunächst, ziehen dann aber rasch in ihren Bann.

Die parallele Dynamik tut der Spannung keinen Abbruch. Im Gegenteil: Man will unbedingt erfahren, was aus Ron, Lissy und ihren Schicksalsgenossen geworden ist.

Bei seiner Spurensuche in Brandenburg und in Israel hat Faes Zeitzeugen getroffen – unter ihnen Efri, der 1939 als 13-Jähriger ins Landwerk gekommen war. Man habe damals nicht geahnt, wie schlimm es werden würde, sagt der alte Mann, der heute am Rand von Jerusalem lebt. Efri hat die Erinnerungen in das neue Land mitgetragen. „Doch wer will heute noch davon wissen?“

Doch, man will davon wissen, und Urs Faes verleiht den Erinnerungen und Bildern aus dem Gestern eine Lebendigkeit, die sich „erzählen und nacherzählen“ lässt. „Nicht, was wirklich gewesen ist, aber was gewesen sein könnte, damals im Sommer 1938.“

(6.3.2014 © sda/sfd)

Zwischen den Welten

von Sibylle Birrer

Ein junges Paar, ganz nahe beieinander stehend, vielleicht aneinander gelehnt – die junge Frau schaut direkt in die Kamera, der Blick des Mannes scheint auf eine nahe Zukunft gerichtet. Ein schönes Paar. Doch in der inszenierten Selbstdarstellung sind die beiden von einer überzeugten Ernsthaftigkeit und latenten Unsicherheit zugleich, so dass man ein zweites Mal hinschaut. Und sich fragt: Wo nur hat man diese historische Fotografie, die den Buchumschlag des neuen Romans von Urs Faes ziert, schon einmal gesehen?

Die Antwort lässt sich aus dem Bücherregal greifen: Das gleiche Paar, in leicht veränderter Pose, findet sich bereits auf dem Cover von Urs Faes‘ Roman «Liebesarchiv» von 2007. Diente damals die Fotografie als Stimmungsbild für die Suche des Protagonisten nach dem Vergessenen und Verschwiegenen in der Biografie des Vaters, so unternimmt der neue Roman «Sommer in Brandenburg» die literarisch-historische Recherche nach den beiden abgebildeten jungen Menschen. Und führt damit in ein kaum bekanntes Stück deutsch-jüdischer Geschichte, das sich Ende der 1930er Jahre in der Nähe von Berlin abgespielt hat.Eine LiebesgeschichteDamals, im Sommer 1938, porträtierte ein jüdischer Fotograf das junge Paar im Landwerk Ahrensdorf, einem von der Reichsvertretung der Juden gepachteten Landgut. In den Hachscharas, eigentlichen «Auswanderungslehrgütern» rund um Berlin, sollten jüdische Jugendliche mit harter Feld- und Handwerks-arbeit für ihre Zukunft in Palästina, im Kibbuz, gerüstet werden. Von den Nationalsozialisten anfangs leidlich geduldet, wurden die Hachscharas zu immer heftiger bedrängten Wartestationen für Jugendliche, von denen nur einer Minderheit die Flucht aus dem Irrsinn und in die ungewisse, unbekannte neue Heimat gelang.

Lissy Harb aus Wien und Ron Berend aus Hamburg – und schon haben die beiden jungen Menschen in «Sommer in Brandenburg» nicht nur einen Namen und eine Herkunft. Vielmehr lässt die literarische Imagination auf 260 Buchseiten ihre Liebesgeschichte aufleben; eine zarte Romanze in Zeiten des Schreckens. Keine Geschichte mit Happy-End. Aber eine Möglichkeit, dem Holocaust mit zwei Gesichtern sowie einem nahezu unbekannten Nebenschauplatz Erzählraum zu verleihen und dem literarischen Kernthema des Autors, der Widerstandsgeschichte des Liebens und Erinnerns, mit neuem Stoff auf den Grund zu gehen.

Denn die Romane von Urs Faes erzählen seit drei Jahrzehnten vom Versuch zu lieben und dem Lieben wie dem Leben gewachsen zu sein. Doch anders als in den bisherigen Romanen haben die beiden Liebenden in «Sommer in Brandenburg»keine Zeit, um gemeinsam zu scheitern – die Realität, die der Autor ausgiebig recherchiert hat, bringt sie nach einem kurzen Jahr im Landwerk um ihre Zweisamkeit: Lissy erhält im Frühsommer 1939 die Ausreiseerlaubnis. Ron bleibt alleine zurück. Das Donnergrollen des Kriegsausbruchs vermischt sich mit Schikanen, Verhaftungen und gewalttätigen Übergriffen auf den vermeintlichen Schutzraum, aus dem es keinen Fluchtweg mehr gibt.

In genauer Chronologie – den Widerspruch zwischen menschlicher Harmonie und weltpolitischer Dissonanz ausreizend – wendet sich Urs Faes seinen Protagonisten zu: Inmitten des strengen Tagesablaufes aus körperlicher Arbeit, Sprach- und Religi-onsunterweisung sowie gemeinschaftsstiftendem Zusammensein finden sich zwei. Im sittenstrengen Landwerk ist die Berührung der Hände ein Wagnis, der Kuss ein Abenteuer. Derweil die Menschlichkeit ausserhalb des umzäunten Geländes einknickt, Familienmitglieder verhaftet und deportiert werden, treffen Verliebtsein und

Sorge um Leib und Leben unerbittlich aufeinander. Zu Recht verzichtet Faes auf zusätzliche historische Verortungen und unterlässt jede vermittelnde Erklärung. Stattdessen ruht die gesammelte literarische Konzentration auf der Beschreibung der kleinen Avancen und grossen Emotionen, die wiederum in atmosphärisch gemalten Landschaftsbildern aufgehoben sind. Doch vielleicht liegt es am Aufeinandertreffen des politisch Ungeheuerlichen mit dem zutiefst Menschlichen, dass Urs Faes‘ im Übrigen präzis austarierte Sprache in Lissys und Rons Nähe zuweilen ins romantisch Verklärte zu kippen droht. Oder inszeniert der Autor in diesen Momenten bewusst das Phänomen des Verklärens, das jeder Erinnerung zu widerfahren droht und das dieser Roman mit thematisiert?

Verschollene Erinnerung. Die Hachschara sei für ihn «ein Ort zwischen den Welten» gewesen, sagt ein Zeitzeuge in einer der vier Sequenzen, in denen die Erzählstimme unvermittelt die Chronologie mit Recherche-Kommentaren durchbricht. Nicht nur diesen Überlebenden hat der Erzähler besucht, um einer möglichen wahren Geschichte hinter der Fotografie des jungen Paares auf die Spur zu kommen, sondern auch Archive und Stätten in Brandenburg und Israel. Trotz den ergiebigen Zeitzeugnissen aber bleibt von den Liebenden zum Schluss nur eine Hohlform der Erinnerung: Lissy scheint Palästina erreicht zu haben; Ron ist vermutlich kurz vor Kriegsende auf einem der Todesmärsche oder -transporte ums Leben gekommen. Umso sprechender sind die Fotos, die einen Moment des Glücks zweier historisch Unbedeutender bezeugen. Und umso bereichernder, dass Urs Faes nicht als Historiker, sondern als Schriftsteller sie zum Sprechen bringt.

NZZ vom 14. März 2014

Urs Faes
Paris. Eine Liebe.
Insel-Bücherei, 2012

Literarisches Kleinod

Hans Ulrich Probst

Urs Faes ist bekannt für seine stillen, atmosphärisch dichten Romane. Seine Themen sind die Liebe und ihr Gelingen oder Scheitern und die Erinnerung und Vergegenwärtigung des Vergangenen. In «Paris. Eine Liebe» zeigt Faes seine poetischen Qualitäten aufs Schönste.

An einem sonnigen Septembertag kommt der Schweizer Eric in Paris an. Zum ersten Mal nach drei Jahrzehnten ist er wieder dort, wo er im Winter 1971 eine riesige Enttäuschung erlebte. Seine Verlobte Claudine, die zum Studiumin die französische Metropole gezogen war, gab ihm gleich bei seiner Ankunftkurzerhand den Laufpass. Wegen eines anderen.Nun, beim Besuch seines alten Freundes, überfällt ihn machtvoll die Erinnerung an jenes Leid. Eric schreitet die damals begangenen Wege erneut ab und durchlebt nochmals intensiv, was ihm damals widerfahren ist. Es reift eine Art Versöhnung mit seinem Geschick. Und am Ende kommt es, fragil und ergebnisoffen, zu einer Wiederbegegnung mit der einstigen Geliebten, die gleichfalls in die Stadt zurückgekehrt ist.

Einer der schönsten Texte von Faes

Urs Faes bündelt in diesem kompakten Text alle seine seit langem erprobten Fähigkeiten. Sein subtiles, stimmungsvolles Schreiben verknüpft genaue Beschreibungen der Aussenwelt kunstvoll-beiläufig mit der Darstellung der Innenwelt seiner Protagonisten.Behutsam und zart, zugleich strichsicher und ohne ein Wort zuviel, gelingt es Faes, das scheinbar banale Geschehen auf einer existentiellen Ebene zu verhandeln. So ist «Paris. Eine Liebe» trotz des klischeeverdächtigen Titels zu einem der schönsten Texte dieses Autors geworden: klug, suggestiv und unangestrengt. Erics Reflexion über Leben und Erinnerung mündet in folgende bedenkenswerte Sätze, die an Max Frisch erinnern:“Wäre er ein anderer geworden ohne diese Februartage in Paris, mit den Rändern von Schnee, den langen Gängen durch die winterliche Stadt? Bestand einer nicht genauso aus dem, was er nicht gelebt hatte, wie er aus dem bestand, was, durch Zufall, seine Wirklichkeit geworden war? Und erfand man sich dazu eine Geschichte, die man für sein Leben hielt? War er all die Jahre um diese Tage gekreist wie um ein unsichtbares Zentrum?“

Urs Faes
Paarbildung
Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010

Die Angst der Ärzte vor den Patienten

Die Diagnose ist verheerend, aber der Krankheitsverlauf birgt Überraschungen: Der Schweizer Urs Faes hat mit „Paarbildung“ eine Liebesgeschichte vorgelegt, die therapeutische Wirkung hat.

Von Nicole Henneberg
Wer Zürich für eine langweilige Banken-Stadt hält, in der sich nie etwas bewegt, der irrt: die Dada-Bewegung nahm hier ihren Ausgang, und in jüngerer Zeit ließen mehrere Wellen von Jugendkrawallen manch friedlichen Bürger von Lynchjustiz träumen.
So öffnet es einen zeitlich und stimmungsmäßig sehr genau umrissen Hallraum, wenn sich das Liebespaar Andreas und Meret in Urs Faes neuem Roman „Paarbildung“, der auf der Shortlist für den morgen verliehenen Schweizer Buchpreis steht, am Rande einer gewalttätigen Demonstration in Zürich zusammenfindet.
„Schmelzt das Packeis!“, rufen die jungen Demonstranten 1981 und berufen sich in ihrer Abwehr von bürgerlicher Sattheit und Selbstgerechtigkeit auf die dadaistischen Slogans von 1916. Meret ist eine Aktivistin und Andreas, der strebsame Student, der sich vor der wilden Jagd weggeduckt hatte, findet sie blutend und mit wütendem Gesicht unter dem Zwingli-Denkmal. Schon das wäre für eine Liebesbeziehung ein schwieriger Ausgangspunkt, aber in dem doppelbödigen Romantitel steckt auch noch ein Begriff aus der Krebstherapie.
Anderthalb Jahrzehnte nach jenem schicksalhaften Treffen steht Meret Etter in ihrer Züricher Küche und starrt auf den Behandlungsplan, der in den nächsten Monaten ihr Leben bestimmen wird: „Die Wörter sind da, in ihren Gedanken, schwirren heran wie Seidenspinner: Fibrosen, Nervenschädigungen, Depigmentierung, Paarbildung, ein schönes Wort für den Strahlenabsorptionseffekt, denkt sie.“ Als die Brustkrebsdiagnose sie trifft, hatte sie gerade ihre feste Stelle als Juristin aufgegeben, um ein selbstbestimmteres Leben zu führen. Seit vielen Jahren haben sie und Andreas Lüscher sich aus den Augen verloren, jetzt treffen sie sich ausgerechnet in der Klinik wieder, wo er als Psychologe die qualvollen Heilungsprozesse begleitet.
Urs Faes hat sich in seinem neunten Roman viel vorgenommen — und es gelingt ihm mit Bravour, obwohl die Liebeskonstellation aussichtsloser und tragischer nicht sein könnte. Aber die Gratwanderung zwischen sachlicher Krankheitsschilderung und erzählerischer Leichtigkeit gelingt ihm so gut, dass man diese Geschichte trotz der verstörenden Krankheit als zarte, große Liebesgeschichte liest. Was umso verblüffender ist, als sie in einem kargen, sehr pointierten Stil geschrieben ist und die Protagonisten in fast allen entscheidenden Momenten schweigen. Es gibt kaum Dialoge in diesem Roman, und die wenigen wirken steif und qualvoll, weil die Figuren stammeln und sich verhaspeln, sobald sie etwas von sich erzählen sollen, und über die wichtigsten Dinge können sie gar nicht sprechen. Die Kunst des Autors ist dem Dialogischen genau entgegengesetzt: Er spiegelt das Seelenleben seiner verschlossenen, wortkargen Figuren so beredt in kleinen Gesten oder im Licht über einer Landschaft, als würden Meret und Andreas in jedem Satz ihre Liebessehnsucht und ihren Einsamkeitsschmerz herausschreien.
Den Klinikalltag mit seinen Behandlungsstrategien und Tumorboards kennt der Autor genau. Eine Züricher Klinik hatte ihn beauftragt, anderthalb Jahre lang deren onkologische Station zu beobachten, um das Verhältnis zwischen Patienten und Ärzten und die seelischen Folgen von Strahlentherapie und Chemo-Coctails zu beschreiben. Daher weiß sein auktorialer Erzähler, dass die Ärzte sich von den Ängsten und Forderungen der Patienten verfolgt fühlen, oft bis in ihre Träume hinein. Auch sein Held reagiert unwillig und panisch, als er Merets Krankenakte auf seinem Schreibtisch findet. Er gesteht sich ein, dass er nicht genügend Distanz hat, um ihre Ängste während der Behandlung aufzufangen. Und als er zufällig ein niederschmetterndes Gespräch zwischen Meret und ihrem Arzt belauscht, zieht ihn jeder Laut, jedes Stuhlrücken, Räuspern oder Zögern in der Stimme magisch an und steigert seine Sehnsucht nach ihr ins Unermessliche: Er steckt, auf höchst unprofessionelle Weise, schon mitten in diesem Fall, der sein ganzes Leben in Frage stellt.
Nochmals durchlebt er staunend jenen Abend, an dem sie ein Liebespaar wurden und die trotzige Steinewerferin ihm auf der Harfe vorspielte. Er sieht, „wie die Dämmerung durchs Fenster ins Zimmer fiel, das Glänzen des Parketts, dann wieder Merets Füße, die das Pedal drücken, das Profil ihres Gesichts, das sich vom Dunkel abhob, diese Stirnlocke, die bebte; die Töne, die sich mit dem Dunkel mischten, als Lichtpartikel im Raum hingen, ein glimmendes Leuchten, ein Abendzauber.“ Viele solcher konzentrierten und schwebenden Schilderungen gibt es im Roman, der von abendlichem Licht geprägt ist und von einer grandiosen Berglandschaft, in der auch die schönste und eindringlichste Szene spielt: die Beerdigung von Merets bester Freundin Luzzi. Das Schicksal der rabiaten und rebellischen Polizistentochter aus dem Bergell, die aus dem Dorf floh um Ethnologie zu studieren, die Dada-Verse schrieb und übermüdet mit dem Auto in einen Fluss raste, beschäftigt Lüscher jahrelang. Schon die Beerdigung in ihrem Heimatdorf gerät zum grandios geschilderten Kulturkampf: zornerfüllte Jugend gegen jahrhundertealtes Gleichmaß, schwarze Gewänder gegen kurze Röckchen und kirschrote Münder. „Denn wenn der Gerechte weicht von der Gerechtigkeit und tut Böses, so muss er sterben; er muss um seiner Bosheit willen, die er getan hat, sterben“, zitiert der Pfarrer den Propheten. Andreas und Meret fliehen vor diesem alttestamentarischen Bannspruch in die Berge, in ein tröstliches, taubenblaues Licht. Dorthin werden sie, nach Abschluss der Strahlentherapie, für ein letztes, gemeinsames Wochenende zurückkehren.
Wie ein Film laufen all diese Erinnerungen vor Andreas‘ innerem Auge ab, und nicht zufällig trifft ihn der Tod des Regisseurs Michelangelo Antonioni tief.
Verzweifelt rast er an diesem Tag mit dem Rad durch die sommerliche Landschaft und starrt in die Sonne, bis ihm schwarz wird vor Augen. Alle Sätze, mit denen Antonionis Werk im Radio kommentiert wird, sprechen auch von ihm: seinem obsessivem Blick auf die Frauen, der Aufmerksamkeit für die menschliche Fragilität und einer magischen Beziehung zu Licht und Schatten. Doch sind das nicht nur seine, sondern die Antriebskräfte des ganzen Romans, der Gegenstände und Gesichter geduldig und präzise abtastet und hochsymbolisch ausleuchtet, bis sie alle ihre Geheimnisse preisgeben. Außerdem: wo könnte man heute mehr über die menschliche Fragilität erfahren als in einer Krebsklinik? Man kann „Paarbildung“ nicht nur als Hommage an die erzählerische Kraft von Antonionis strenger, poetischer Bildsprache lesen, sondern auch als bissig-mitfühlendes Porträt eines Intellektuellen, der für die Freiheit schwärmt und fasziniert die Rebellion ringsum beobachtet, ohne irgendwo anzukommen — bis ihn das Leben hinterrücks doch erwischt. Nur lässt sich die Liebesgeschichte dann nicht mehr reparieren. An ihrem letzten gemeinsamen Abend im Gebirge kratzt Meret, wie Lidia (Jeanne Moreau) in „La Notte“, Farbe von einer Wand: „Splitter, murmelt sie, und darunter Rost. Sie öffnete die Hand und ließ die Splitter über das Geländer hinausfiattern, im Gegenlicht blitzten sie kurz auf.“

© Frankfurter Allgemeine; 13.11.2010

Dem Leben zugewandt

Mit «Paarbildung» legt Urs Faes einen eindrücklichen neuen Roman vor

Von Sibylle Birrer

Über Krankheit fiktional zu schreiben ist ein heikles Unterfangen. Schnell ist die Schwelle zur Betroffenheitsliteratur überschritten, noch schneller der Verdacht erweckt, hier imaginiere sich jemand unbedarft bis anmassend in fremde Schmerzwelten hinein. Dies gilt erst recht, wenn es sich dabei um das Thema Krebs handelt. Denn zum einen haftet der Krankheit nach wie vor sowohl der Nimbus des heimtückisch Tödlichen als auch ein komplexes Bedeutungsfeld aus Tabus und metaphorischen Mutmassungen an. Zum anderen transportiert die Thematik zwangsläufig persönliche Assoziationen und Betroffenheit: In Europa, wo im Schnitt bald jede dritte Person an Krebs erkrankt, kommt niemand umhin, sich früher oder später das onkologische Grundvokabular anzueignen.
Doch genau bei dieser Herausforderung setzt Urs Faes mit seinem neusten Roman «Paarbildung» an — und meistert sie auf beeindruckende und zugleich berührende Weise. Wie begegnen sich eine Frau und ein Mann, die sich nach langen Jahren des Getrenntseins im «Ausnahmezustand Krebs» wieder begegnen? Er, Andreas Lüscher, arbeitet als Gesprächstherapeut auf der Onkologiestation eines Krankenhauses. Sie, Meret Etter, sieht sich in ihrer Lebensmitte mit der Diagnose Brustkrebs konfrontiert. Einst verband die beiden über Jahre hinweg eine Liebesbeziehung, nun kreuzen sich ihre Wege auf der radiologischen Abteilung, wo Meret nach der Operation und Chemotherapie sich der — hoffentlich — abschliessenden Bestrahlungsbehandlung unterzieht.
Am Anfang steht der Schreck, das Nicht-wahrhaben-Wollen: Eine Röntgenaufnahme, eine Patientennummer, ein verordnete Strahlendosis — kann hinter diesen fragmentierenden, letztlich so eindimensionalen wie statischen Daten tatsächlich die Person stehen, mit der man einst Sinnlichkeit und Raum erfahren hat? Vorerst ganz aus der personalen Perspektive von Andreas schreibt sich Urs Faes in das Vakuum aus tödlicher Bedrohung, medizinischen Kampfmassnahmen und menschlicher Betroffenheit hinein. Doch schon bald erhält auch Meret eine ganz eigenständige und vor allem glaubwürdige Stimme. Im Wechselschritt der beiden Stimmen gelingt es dem Autor auf subtile Weise, dieses Vakuum nach und nach mit einer Geschichte zu beleben, die je länger je weniger vom Kampf gegen das Kranksein handelt als von der Herausforderung, das Leben mit zwischenmenschlicher Würde zu bestehen.
In drei Teilen führt der Roman «Paarbildung» zugleich durch Merets abschliessende Behandlungsphase und hinein in die Erinnerung an eine Liebesgeschichte, in der zwei Menschen sich mit selbstverständlicher Unachtsamkeit abhanden kommen, letztlich unwissend weshalb. Mit ausgereiftem dramaturgischem Geschick platziert Urs Faes dabei seine Protagonisten immer wieder zwischen den ebenso selbstverständlichen Antipoden Leben und Tod — ohne Pathos, doch mit der Aufmerksamkeit eines Autors, der zurecht ganz seiner gestalterischen Kraft vertraut und sich damit ausschliesslich auf seine Figuren verlässt. Nichts bedarf des Kommentars, alle Reflexion ist ins Erleben der Protagonisten verlegt.
Wohl hat sich Urs Faes diesen Anspruch der literarischen «Durchdringung» seiner Figuren längst zum Prinzip gemacht. In seinem achten Roman verschmelzen nun aber die Thematik und ihre literarische Umsetzung in so berührender wie vereinnahmender Weise. Zum einen gelingen Urs Faes — sei es in der Natur oder im technisierten Krankenhausalltag — präzis verknappte Stimmungsbilder, vor denen die Figuren ihre Tiefenwirkung entfalten können. Zugleich erhält der Roman im Wechselspiel zwischen Evozieren, Erzählen und vor allem auch Auslassen eine unprätentiöse Dichte und überraschende Leichtigkeit in einem.
Zum anderen ist in «Paarbildung» von Anfang bis Ende spürbar, dass dieser literarischen Auseinandersetzung eine vielschichtige, nachhaltig reflektierte Erfahrung zu Grunde liegt. Tatsächlich hatte Urs Faes während eineinhalb Jahren den Auftrag, als «sprachlicher Beobachter» die Arbeit einer Onkologiestation zu begleiten – eine wahrlich umsichtige und hoffentlich zukunftsweisende Aufgabe, zumal sich das Sprechen über Krebs auch 30 Jahre nach Susan Sontags anklagendem Essay «Krankheit als Metapher» noch immer in der Metaphorik des Krieges abspielt.
In «Paarbildung» ist nun aus dem intensiv Erlebten eine sublime Fiktion geworden, die nicht nur die bizarre Macht der Krankenhaussprache reflektiert und unterwandert, sondern einem auch über die letzte Buchseite hinaus mit dem leisen Gefühl begleitet, dass die Demut vor dem Leben im ganz Kleinen und Unspektakulären beginnt.

Neue Zürcher Zeitung, NZZ, 21. September 2010